„El Tren Macho“

Personenzug durch die Anden

 

Hoch oben in den peruanischen Anden hat bis heute ein Eisenbahnkleinod überlebt, die Ferrocarril Huancayo – Huancavélica. Auf 130 km betreibt sie hier in spektakulärer Landschaft einen täglichen Personenzug. Abgesehen von der touristischen Machu-Picchu-Bahn ist dies der letzte „echte“ Reisezug Perus. Eine Mitfahrt ist ein einmaliges Erlebnis…

 


Das Flussbett des Rio Mantaro hat sich tief in die Bergwelt Perus eingegraben. Die Bahn folgt dem Flusslauf bis kurz vor Hunado. In diesem großartigen Panorama ist der lokbespannte Personenzug nach Huancavélica am 3.Juni 2017 kaum auszumachen.

 

Huancayo – Hauptstadt der Region Junin, Peru, 336.000 Einwohner, 3.259m über dem Meer –um fünf Uhr morgens. Dunkel liegen die Gassen in der Stadt. Nur wenige Autos, zumeist Taxen, und kaum Menschen sind unterwegs. Tagsüber ist diese Stadt voller Leben. Zwei „Gringos“ – Fremde – suchen den Weg zum Bahnhof. Irgendwo dort hinten sollte er sein – und tatsächlich: Ein stattliches Gebäude, hell beleuchtet, auch Gleise liegen hier direkt in der Mitte der Straße. Aber die Tore am Bahnhof sind geschlossen. Kein Weg führt ins Innere. Hier kann es also nicht sein. Ein Wärter weist jedoch freundlich den Weg: Zweimal nach links, stockdunkle Gassen entlang, praktisch im Hinterhof, dort steht er dann: der Zug nach Huancavélica. Perus einziger Personenzug. Dreimal pro Woche ist er als richtiger Zug, sonst als Triebwagen unterwegs. Die Abfahrt früh morgens um 6.30 Uhr. Welch ein Trubel: die große Bahnhofshalle des schmucklosen eingeschossigen Bahnhofgebäudes, voller Fahrgäste. Sie sitzen auf den Bänken ringsum, stehen plaudernd in der Hallenmitte oder schlummern, während um sie herum Kinder spielen. Händler vor der Tür bieten Verpflegung für die fünfeinhalbstündige Reise an, frische Weizenbrötchen, Obst, in Fett frittierte Pfannkuchen, aber auch sonstigen Reisebedarf. Am Fahrkartenschalter wird die lange Schlange rasch kürzer. Tickets für den Buffetwagen werden für umgerechnet 3,30 EUR ausgegeben, eine 1.-Klasse-Fahrkarte kostet rund einen Euro weniger – Zwischenziele entsprechend günstiger.

Heute ist jedoch ein besondererTag, denn am Endpunkt der Ferrocarril Huancayo –Huancavélica (FHH)wird heute das „El Espíritu Santo“ (Fest des Heiligen Geistes) gefeiert. Das von unserem Startbahnhof 129 km entfernte Huancavélica ist die Hauptstadt der gleichnamigen Region und besitzt rund 40.000 Einwohner. Viele Menschen machen sich also auf den Weg, um mitfeiern zu können. Zu unserer Freude wird sogar ein zusätzliches Zugpaar angeboten. Draußen pfeift es und ein Diesel tuckert. Um der großen Nachfrage zu genügen wird soeben ein zusätzlicher Wagen bereitgestellt.

Die Lok mit der Nummer 435 wurde 1974 bei Montreal Locomotive Works (MLW) gebaut und ist bestückt mit der amerikanischen Motorentechnologie schlechthin – einem Alco-Diesel. Das verspricht fünf Stunden akustischen Hochgenuss. Sechs Wagen hängen am Haken der Lok, davon zwei gedeckte Güter-, zwei Buffetwagen und zwei Primera Clase, – jeder Platz wird besetzt. Die Fahrt kann beginnen, 129 km beeindruckende Berglandschaften erwarten uns.


Fahrplankenntnis ist unabdingbar.

 


Mitten auf dem Marktplatz von Izguchaca legt der Zug am 9.Juni 2017 einen Halt ein. Viele Häuser und ein örtliches Hotel sind nur „über die Schiene“ erreichbar.

 

Der „El Tren Macho“

Die Geschichte der Bahn reicht zurück bis in das Jahr 1904, als mit ihrem Bau in dem unwegsamen Gelände begonnen wurde. Aufgrund des Ersten Weltkriegs dauerte die Fertigstellung der 914-mm-Schmalspurbahn jedoch bis zum 24. Oktober 1926. Der Endpunkt Huancavélica hatte durch seine bereits im Jahr 1566 entdeckten reichhaltigen Zinnober- und Quecksilbervorkommen längst Bekanntheit erlangt. Die Rohstoffe sollten mit der Bahn abtransportiert werden, wozu die Strecke noch weitere 11 km bis Lachoc verlängert wurde.

Die FHH war das zuletzt fertiggestellte Stück des zentralen Eisenbahnnetzes Perus. Denn bereits seit 1908 bestand die Möglichkeit mit der normalspurigen Ferrocarill Central Andino (FCCA) von Huancayo direkt zur Hauptstadt Lima und zum Pazifikhafen Callao zu gelangen. Die Strecke FCCA überwindet bei La Galera einen 4.783m hochgelegenen Pass und war damit bis zur Eröffnung der chinesischen Tibetbahn die höchstgelegene Bahnstrecke der Welt.

Früher bestand täglich die Möglichkeit, mit dem Zug von Lima nach Huancavélica zu fahren – mit Umstieg in Huancayo. Doch auf der Strecke der FCCA verkehrt heute etwa alle vier Wochen nur noch ein Touristenzug, der bei einem Fahrpreis von mehreren hundert Euro für die meisten Einheimischen keine Alternative mehr bietet – sie nehmen den Fernbus.


Triebwagen 31 überquert am 9.Juni 2017 einen Zufluss des Rio Mantaro im Stadtbereich von Hunacan. Die Wasserversorgung zapft derweil frisches Wasser im Fluss.

 

Trotzdem besteht bis heute der Gedanke an einen durchgehenden Zugverkehr vom Pazifik bis Huancavélica. Mehr noch, so wurde die bis dahin schmalspurige FHH sogar von 2006 bis 2011 mit diesem Ziel auf Regelspur umgebaut. Dabei wurden zum Teil Schienen von stillgelegten FCCA Zweigstrecken verwendet. Nebendem Strecken- und den meisten Nebengleisen wurde auch ein Großteil des Fuhrparks umgespurt. So sind die heute verwendeten Triebfahrzeuge und Wagen ehemalige Schmalspurfahrzeuge. Die durchgehenden Züge blieben allerdings bis heute Zukunftsmusik und selbst Güterverkehr war auf der FCCA-Anschlussstrecke im Jahr 2017 kaum anzutreffen.

Unser Zug hat zwischenzeitlich unter ständigem Pfeifen und oftmals mitten auf der Straße verkehrend in gemächlichem Tempo die Vororte Huancayos durchfahren. Nach etwa 8 km wird in Huancan mittels einer großen Kastenbrücke ein Zufluss des Rio Mantaro überquert, bevor die Strecke wenig später in die enge Schlucht des Rio Mantaro einbiegt, dem sie über viele Kilometer folgt.

Durch die Wildnis


An steilen, abrutschgefährdeten Hängen verläuft die Trasse im Tal des Rio Mantaro (hier ein Zug am 9.Juni 2017) – oft abseits der wenigen vorhandenen Straßen, so dass der Zug für die örtliche Bevölkerung unverzichtbar ist.

 

Mehrere hundert Meter hoch ragen die steilen Bergwände in den Himmel, kleine Inka-Dörfer liegen ohne Straßenanschluss an den Ufern oder den Hängen und sind nur durch den Zug und teils abschüssige Pfade erreichbar. Große Steilwände ohne Vegetation zeigen die Gefahren von Bergrutschen, sollten Unwetter die Landschaft ereilen. Nur auf einem kurzen Abschnitt folgt die Straße parallel und bindet größere Ortschaften an. Oft sind die Orte und Gehöfte nur über ein Floß mit dem Bahnhof auf der anderen Uferseite verbunden, der Passagier hangelt sich an einem gespannten Draht über die Fluten. Der „Tren Macho“ ist für viele Bewohner die einzige Verbindung zur Außenwelt. Und auch zwischen den Endpunkten bietet der Zug eine zuverlässige und sichere Verbindung, müssen doch die Busse die kurvigen, gefährlichen Straßen über die Berge nehmen. Bei jedem Stopp steigen Fahrgäste ein und aus. In die mitgeführten Güterwagen werden Produkte der überschaubaren regionalen Landwirtschaft verladen, um sie auf den Märkten der Städte anzubieten. Nach längerer Talfahrt entlang des Rio Mantaro wird schließlich etwa in Streckenmitte Mariscal Cácheres erreicht, der mit 2.819m über dem Meer niedrigste Punkt der Strecke. Hier wechselt die Trasse in das Tal des Rio Yauli, es folgt ein nicht minder spektakulärer Abschnitt. Nun gilt es wieder an Höhe zu gewinnen, müssen doch bis Huancavélica (3.680m ü. NN) noch rund 800 Höhenmeter überwunden werden. Entlang der FHH gibt es sieben Bahnhöfe, 19 Haltepunkte, 15 Brücken und 38 Tunnel.

Zurück im Zug: Im Buffetwagen herrscht Hochbetrieb. Unglaublich, was das Personal in der winzigen Küche von weniger als zwei Quadratmetern zaubern kann. In allen Wagen ist der Kellner nun anzutreffen – dem schwankenden Zug durch wahre Standhaftigkeit trotzend. Jeder greift ordentlich zu und niemand bleibt hungrig. Es gibt traditionelle Kost, Reis, Fisch, Fleisch, Omelett und natürlich auch Kartoffeln – für den flüssigen Genuss ist durch Selbstgebrannten gesorgt.


Fünf Stunden beträgt die Fahrtdauer auf der Gesamtstrecke der FHH. Zeit, die der ein oder andere Fahrgast für ein Nickerchen nutzt.

Entsprechend besitzen auch der Gütertransport und die Versorgung der Fahrgäste eine wichtige Funktion.
Doch damit noch nicht genug, denn an den Unterwegsbahnhöfen und auf kurzen Streckenabschnitten sind fliegende Händler zur Stelle, die ihre lokalen Speisen, meist „Choclo, Choclo con queso“ (Maiskolben mit Käse), feilbieten. Nichtsdestotrotz: Der Küchenchef macht das Geschäft seines Lebens, bis in Izguchaca plötzlich die Eier ausgehen. Aber kein Problem, der Zug wartet bis schnell Nachschub organisiert ist.


An drei Tagen pro Woche fährt der lokbespannte Personenzug hin, am Folgetag zurück. Die Fahrt beginnt jeweils morgens um 6.30 Uhr und dauert fünfeinhalb Stunden. Hierfür stehen drei MLW-Lokomotiven der Bauart DL532B zur Verfügung, welche mit 435 und 436 genummert sind. Ebenfalls an drei Tagen verkehrt ein Triebwagen zur gleichen Abfahrtszeit, der die Strecke in nur vier Stunden bewältigt. Freitags wird darüber hinaus ein zusätzlicher Triebwagenkurs angeboten, dessen Hinfahrt mittags startet und der Huancavélica auf dem Rückweg gegen 18 Uhr verlässt. Hierfür wird ein japanischer Kinki-Triebwagen eingesetzt. Während die Abfahrtszeiten und die Ankünfte eingehalten werden, sind die Zeiten für die Unterwegsbahnhöfe eher flexibel gehalten., Güter werden in den mitgeführten gedeckten Güterwagen transportiert, die Verladung erfolgt während des Halts direkt an der Laderampe der Güterschuppen. Größere Gütermengen werden in Yauli umgeschlagen, was auch Rangierarbeiten erfordert. Aktuell kursieren Pläne einer vollständigen Modernisierung und Ertüchtigung der Bahn: Trasse, Stationen, Signaltechnik und Fuhrpark sollen grundlegend modernisiert und für die Zukunft fit gemacht werden. Eine Zukunftsperspektive für die von Armut geprägte Region? Offen bleibt, ob der avisierte Start im Frühjahr 2018 realistisch ist. Schon viele solcher Projekte haben sich in Peru in der dünnen Luft der Anden aufgelöst…

 

Kurz vor dem Ziel

Unser Zug hat Huancavélica fast erreicht, pfeifend werden die letzten Meter vor dem Endbahnhof zurückgelegt. Dann steht er. Eine Kapelle auf dem Bahnsteig spielt auf, alle sind in Festlaune. Hinter dem Bahnhof dienen abgestellte, nicht umgespurte Güterwagen als Verkaufsfläche der Einheimischen. Kistenweise stapelt sich heute das Bier. Spielmannszüge ziehen durch die Gassen, Schulklassen und Vereine präsentieren sich und sorgen für Musik. Während eine Frau Körbe aus dem Güterwagen auslädt, wird die Lok rasch abgekuppelt, läuft um die Wagen um und wird auf der handbetriebenen Drehscheibe gewendet. Anschließend verschwindet sie in den kleinen spartanischen Lokschuppen. Feierabend für Lok und Personal. Erst morgen wird es wieder zurückgehen. Viel Zeit also, um mitzufeiern. Text und Aufnahmen: Thorge Bockholt/Thomas Kabisch